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Kommt, von allerreifsten Früchten
Mit Geschmack und Lust zu speisen! Über Rosen läßt sich dichten, In die Äpfel muß man beißen.
Goethe, Faust II, »Weitläufiger Saal«, Hamburger Ausgabe Vers 5166 ff.)
GLOSSE
Meine Muse zu beleben fühle ich seit vielen Tagen
aus der Stadt ein seltsam Streben,
und ich will es endlich wagen, aufzubrechen in die Reben.
Dort benage ich den Daumen,
denn am vorgeplanten Dichten hindern mich die schönsten Pflaumen: Ein Verlocken für den Gaumen
kommt von allerreifsten Früchten.
Mir vergehen meine Lieder: Da ich über Zäune steige und die vollen Äste nieder zum bequemen Pflücken neige, kehren Knabenängste wieder.
Was ich lange schon vergessen,
will ich mir erneut beweisen
und beginne frech zu essen, fremde Früchte froh, vermessen
mit Geschmack und Lust zu speisen.
Ungeniert kann ich mich laben: Da auch süße Birnen reifen,
da auch Pfirsiche zu haben,
brauche ich nur zuzugreifen in der Fülle saftiger Gaben.
Doch mir will kein Vers gelingen, und ich muß darauf verzichten,
mit Gewalt ihn zu erzwingen: Denn von Obst läßt sich schwer singen;
über Rosen läßt sich dichten.
Meine Muse zu beleben,
bin ich aus der Stadt gezogen,
doch mein ehrliches Bestreben
wurde ganz und gar betrogen,
und die Absicht ging daneben. Früchte können zwar auch zieren,
doch wir wollen sie nicht preisen,
ohne vorher zu probieren. Daraus läßt sich postulieren:
In die Äpfel muß man beißen.
1959
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