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  Titel Archilochos Erster Teil


Ed Sanders schreibt – nein singt:


Oh I learned from Archilochus
about the nightingale
oh I long to hold the nightingale
nesting in my hands


Er singt das herzerweichend, so, daß sich beim Rasieren die Barthaare aufstellen.

and I love to spend the Catskill spring
the Catskill spring with you
and you know that there's a hunger there
to touch the nightingale


Das Verlangen, die Nachtigall anzulangen, teile ich. Ich begann mich ein zweites Mal für diesen Archilochos zu interessieren, dessen gemischten Nachruhm ich bisher nur aus der Griechischen Anthologie kannte: Dort gilt er als einer, der die Gabe der Musen feindlich mißbraucht habe, etwa als Waffe gegen seinen wortbrüchigen Schwiegervater Lykambes, der des Archilochos Braut Neobule einem reicheren Freier zur Frau gegeben hatte. Die poetische Rache des Archilochos soll zum Selbstmord des Lykambes und seiner geschmähten Töchter geführt haben. So fand ich in der Anthologie Grab-Epigramme, die noch vor dem toten Dichter warnen. Frei übersetzt etwa so:

Stich nicht
ins Wespennest,
Wanderer, hier
liegt Archilochos,
sieh dich vor!


Gut, Wespenstachel, das kann ich auch. Aber was ist mit der Nachtigall?

Oh they talk so elegantly
about eternity
oh I sing to you Archilochus
to touch the nightingale

And you know that there's a hunger there
to touch the nightingale
oooooo, feel the fluttering wings upon my begging lips

oooooooooooooooooooooo


Diese ooo sind keine Nullen, sondern gesungene, fast gejaulte Os. Man kann sich das in einer Literatursendung des Saarländischen Rundfunks anhören oder von einer Tonkassette, die Wolfgang Mohrhenn in seinem S-Press Verlag herausgebracht hat. Lieder für Leier & Sprechkrawatte heißt die Textsammlung von Ed Sanders, die Wolfgang Mohrhenn zweisprachig im Verlag von Michael Kellner vorlegt. Archilochos ist das erste Lied darin. Es beginnt so:

There used to be a poet named Archilochus
one of the greatest of them all
Oh there's nothing of his poetry now
except some scattered lines

I wish we could hear Archilochus
play his four-stringed lyre
Oh to hear some great poetry
to make the world entire

oooooooooooo


In der ersten Nummer seiner Zeitschrift Fuck You schrieb Ed Sanders 1962 in New York: »Fuck You tritt ein für Pazifismus, unilaterale Abrüstung, nationale Verteidigung durch passiven Widerstand, multilaterale nichtdiskriminierende Vereinigung aller Öffnungen und Löcher, Anarchismus, weltweiten Föderalismus, öffentlichen Ungehorsam, usw.«

Wolfgang Mohrhenn wollte in der »Nachtigall« kein Geschlechtsteil sehen. Ich machte mich allein auf den Weg, las zuerst die Fragmente, die Walter Marg in seiner Reclam-Ausgabe Griechischer Lyrik versammelt hat.

Auf Seite 11 zitiert er »fünf Bruchstücke mit erotischem Inhalt« in eigener Übersetzung. »Andere« – die er nicht zitiert – »sind von großer Derbheit.« Warum sagt er das? Warum zitiert er sie nicht? Zitiert wird nach Diehl. Ernst Diehl: Anthologia Lyrica Graeca, Leipzig: Teubner, 2. Auflage 1936-42 »(hier bezeichnet mit einem D hinter der Fragmentzahl)«. Das ist mein Buch! Ich gehe zu den Altphilologen in Saarbrücken. Aber der Diehl ist ein Massengrab griechischer Poesie, nichts ist übersetzt, und für die Originale reicht mein Schulgriechisch nicht. Selbst die Nachtigall muß ich im Lexikon nach»schlagen«. Da ist sie:

h ahdwn

»One of the greatest of them all« – »to hear some great poetry to make the world entire«. Nicht daß ich keinen Touch bekommen hätte von Margs Übersetzungen. Ich will das nicht verkleinern. Aber es ist nicht das, was die zerbrochene Weit wieder ganz macht. Über den Wespenstachel in der Anthologie griechischer Epigramme, die ich seit zwanzig Jahren in der zweisprachigen Ausgabe von Beckby lese, komme ich von Archilochos (680-640 etwa) zu Hippónax (um 550). Marg zitiert ihn in der Übersetzung von Fränkel, eine Seite, vier Fragmente. Das ist eine heiße Spur. Sie führt mich zu Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Ich kaufe mir den 1976 erschienenen Nachdruck der dritten Auflage im Münchener Beck Verlag. Vier Seiten über Hipponax, dreiundzwanzig (!) über Archilochos, gut und reich in eigener Übersetzung belegt. Der Fränkel ist wirklich zu empfehlen!

»Die Wirkungen des erotischen Triebes beschreibt Archilochos mit derselben Direktheit wie alles andre. Ungescheut redet er von seiner Brunst (Fgt. 72) oder Erschlaffung (Fgt. 34).« Aha. »Ungescheut«! Aber warum nicht auch Fränkel? Er nennt die Nummern (nach Diehl!), zitiert sie aber nicht. Wo bin ich hingeraten mit meinem Verlangen, die Nachtigall anzulangen?

Viel zu spät entdecke ich die zweisprachige Archilochosausgabe von Max Treu. Sie ist 1959 in der Tusculum-Reihe des Heimeranverlags erschienen. Ich kaufe mir die zweite verbesserte Auflage von 1979. Verbessert um den sensationellen Fund von 1974 in Köln: Aus Mumienkartonage, Papyrus, waren fünfunddreißig Verse einer Liebeshandlung zu entziffern. »Da ist eine weibliche Person Gesprächspartnerin des Dichters,« – sagt Treu – »von ihm als Tochter der Amphimedó apostrophiert und – in einem Blumenbeet – zu einem Petting mißbraucht.« Das sagt der so: »zu einem Petting mißbraucht.« Die Liebeshandlung ist zugleich eine Handlung gegen die treulose Verlobte Neobule. Bevor Archilochos »gern befolgt«, was Amphimedó ihm »nahelegt«, sagt er ihr:

»Ein andrer Mann mag Neobule frein. 0 weh!
Sie wurde feist; des Mädchens Blüte ging dahin.
Der frische Reiz ist fort, der Übermut nur blieb.
Der Jugend Grenzen zeigt ein rasend Weib.
Zum Kuckuck! Weg mit ihr! Nicht dazu kam ich her,
ein solches Weib zu holen mir. Ich würde doch
den Nachbarn zum Gespött. Ich nehme lieber dich:
Du bist nicht treulos, nicht voll Wankelmut.
Sie aber ist recht kühn. Viel Freunde holt sie sich.
Ich fürchte, daß sie blinde Frühgeburten wirft
bei solchem Ansturm. Nun, die Hündin tut das auch.«
So sprach ich. Darauf bog ich auf ein Blumenbeet
das Mädchen nieder. Und legt ihr weich
den Mantel um, und hielt in meinem Arm den Kopf.
Sie hörte auf zu zittern wie ein kleines Reh.
Ich streichelte ganz sanft die junge Brust –
Der Jugendblüte Anflug zeigte ihre Haut –
Betastend ihren schönen Körper rührte ich
ans Haar. Solch Streicheln brachte mich um meine Kraft.


Petting? – Mißbraucht? – Er ist nicht in sie gedrungen, das ist alles. Was Max Treu im Detail von dieser Liebeshandlung hält, schreibt er wohl in der Nummer 119 des Rheinischen Museum von 1976 auf den Seiten 97ff. in seinem Artikel Archilochos und die Schwestern, auf den er in seiner zweisprachigen Ausgabe zwar verweist, dessen Gedankengang er uns aber im Kommentar vorenthält.

Jedenfalls bin ich jetzt glücklicher Besitzer dieser – vollständigen!? – Ausgabe, und ich begebe mich weiter auf die Spur der Nachtigall, zu der mich Ed Sanders verlockt, die weder bei Marg noch bei Fränkel einen Flügel geregt hat. »Andere (Bruchstücke) sind von großer Derbheit« hatte Walter Marg gesagt. Und Hermann Fränkel: »Ungescheut redet er von seiner Brunst (Fgt. 72) oder Erschlaffung (Fgt. 34).« Diese Fragmente kann ich jetzt nachlesen. – Brunst:

drauf zu wildem Tun sich stürzen und den Leib an meinen Leib,
Schenkel eng an Schenkel pressen.


Griechisch lautet das so:

kai pesein drhsthn ep' askon kapi gastri gastera
prosbalein mhrouV te mhroiV


Max Treu erinnert, daß solcher Liebeskampf auf die Struktur wirklicher Kampfszenen bei Homer und Hesiod zurückgeht, in denen »Schild auf Schild« knallt. – Und wie steht es mit der »Erschlaffung«? – Das steht – es ist nicht zu fassen – anstelle der deutschen Übersetzung lateinisch da:

sed fracti sunt (mihi) nervi mentulae

Wer kein Latein kann, flieht in solchen Fällen in die Anmerkungen. Da steht aber auch nichts. Genauer gesagt, da werden einige griechische Vokabeln durch griechische Vokabeln erklärt. Also zurück zum griechischen Text:

     all' aperrwgasi (moi)
mukew tenonteV


Natürlich weiß ich, was mentula heißt, ich weiß es von Martial. Ich möchte es aber von Treu wissen. Das ist nämlich der Schwanz, der diesem Gräzisten nicht über die Lippen geht. Archilochos sagt o mukhV, der Pilz. Treu erklärt hinten: mukhV = to aidoion. Das Geschlecht muß ich mir aus dem griechischen Lexikon holen, wie auch den Pilz, der ja in diesem Zusammenhang immerhin eine übersetzenswerte Metapher wäre. Grob deutsch hätte man also übersetzen können:

aber gebrochen sind mir die Sehnen meines Pilzes

Treu zieht die achte Epode des Horaz zum Vergleich heran, die – laut Heinze – in »archilochischen Farben« das Bild der alten Vettel zeichne: »bes. v. 17 nervi rigent«. Die finstere Anmerkung zu unserem Fragment 34 D. verbirgt noch ein anderes Bruchstück des Archilochos, das im Textteil gar nicht erst auftaucht: 171 Bgk. (Bergk):

apalon keraV × to aidoion

Das meine »viell. Ähnliches«, raunt Treu. Also wir, stolze Besitzer einer zweisprachigen Archilochos-Ausgabe, greifen erneut zum griechischen Wörterbuch und entziffern:

weiches Horn ×  das Geschlecht

»Brunst« und »Erschlaffung« erneut im Bruchstück (»some scattered lines«) 102 D:

                              da entlud sich ihm
sein Ding, das wie beim Eselhengst
so groß, beim gutgefütterten, Prienischen.


Wo Treu »Ding« sagt, ist Mißtrauen angebracht. Wir sollten also auch hier in den griechischen Text eintauchen:

                              h de oi saqh
osh t
' onou PrihneoV
khlwnoV eplhmuren otrughjagou
.

Was es mit dem »Ding« oder Unding auf sich hat, schlage ich bei Valentin Christian Friedrich Rost in seinem griechisch-deutschen Schulwörterbuch von 1829 nach: h saqh ist das »männliche Glied«, o saqwn der »mit starkem männlichen Gliede«. o khlwn bedeutet »Brunnenschwängel. 2) Beschäler, Hengst; geiler Mensch«.

Der geile arkadische Esel wiehert auch aus einem verrotteten Papyrusfund von 1954, den Max Treu auf S. 9 wiedergibt:

    eine Schar wird lauthals schreien
..(spotte)nd sie dich nannten »Esel des Arkadiers«
....... (was) die jungen
   Leute oftmals sehr entzückt


Zwölf unleserliche Zeilen weiter steht: »als ein Aphroditefreund«.

Weshalb diese Akribie, weshalb diese »Stellen«? Wir sind auf Nachtigallsuche. Ich will es kurz machen. Ich habe sie nicht gefunden. Ich habe diese ganze zweisprachige Archilochos-Ausgabe durchstudiert und keine Nachtigall gefunden. Der Schluß lag nahe, die Nachtigall bei Archilochos ist eine Erfindung von Ed Sanders. Als Wolfgang Mohrhenn nach New York flog und in Woodstock auch Ed Sanders besuchen wollte, bat ich ihn, meinen Verdacht auszurichten, meinen Verdacht, meine Deutung der Nachtigall und meinen Dank, mich auf diese falsche, aber in ihren Studien so ergiebige Spur gebracht zu haben. Wolfgang Mohrhenn kam zurück mit der Nummer des Fragments, Ed Sanders hatte es ihm in seiner englischen Ausgabe gezeigt: 156 Bgk. (Bergk). Ganz hinten bei Treu gibt es ein »Register der Archilochosfragmente«. In vier Kolumnen vergleicht es synoptisch die Fragmente klassischer Zählung nach Diehl, Bergk, Edmonds sowie die Papyrusfunde mit der französischen Ausgabe von Lasserre-Bonnard. Die dritte Säule verweist auf denTextteil derAusgabe von Max Treu, die vierte auf die »Erläuterungen«. Ich steche also mit der Nadel Fragment 156 Bgk., werde auf (309Lss.) verwiesen und finde in der dritten Kolumne den Textverweis auf S. 248. Die vierte Säule der Erläuterungen ist auf dieser Höhe unterbrochen. Der Textteil der zweisprachigen Archilochos-Ausgabe von Max Treu endet auf S. 141. Auf S. 248 sind wir tief in den Erläuterungen. Ich lese die Seite durch: kein Schwanz einer Nachtigall! Allerdings unten, im letzten Drittel, und dann noch auf S. 249 im ersten wimmelt es von griechischen Vokabeln, die nach einem Ist-gleich-Zeichen (=) durch griechische Vokabeln erklärt werden. Nach einer solchen Gleichung steht in Klammern: (156 Bgk.). Und hier die Gleichung:

(ahdon, ideuV) = gunaikoV aidoion. ahdonideuV heißt »Junges von der Nachtigall«. aidoion heißt »die Schaam, das Schaamglied«. ahdonideuV ist also das Schaamglied, das Geschlecht der Frau. Wie dürfen wir uns das vorstellen? Das Schaamglied des Mannes ist die Nachtigall. Die füttert im Nest, im Schoß der Frau, ihr Junges, das Schaamglied der Frau. Die Schaamlippen sind der hungrig geöffnete Schnabel des Nachtigalljungen. Wir wissen das doch. Wir wissen es nicht, wenn wir vom Vögeln reden.

Warum verbannt Max Treu solche Textüberlieferung in die Erläuterungen, warum erläutert er sie nicht? Warum verbirgt er graezistisch, was er auf deutsch sagen, erhellen sollte? Es geschieht aus falscher Scham, aus falschem, weil undialektischem Begriff von der Schamlosigkeit. Bevor wir uns seiner schämen, ist die Scham das Schamteil, das »Schaamglied«, das Geschlecht. Prüderie ist schamlos. Das ist eine alte Geschichte, und es ist eine alte Schulgeschichte. Wir werden darauf zurückkommen.

Vor dem Massengrab graezistischer Gleichungen auf den Seiten 248 und 49 des Erläuterungsteil seiner zweisprachigen Ausgabe hat Max Treu »Indirekt Überliefertes« kommentiert, speziell Frauennachrede unter der Klammerüberschrift »(Die Weiber)«. Ich zitiere aus den Seiten 113ff. des Textteils:

Archilochos nennt (ein solches Weib) »feist« und »gemein«, d. h. der ganzen Gemeinde willfährig, und »Lohnarbeiterin«, dazu auch noch »Dreckabschaum« – nach Analogie zu »Meeresabschaum« –, und was es sonst noch an derartigen Bezeichnungen gibt.

»Lohnarbeiterin«: die feiste Neobule nennt er so.

Andre sagen, »Mykloi« bezeichne Leute, die scharf auf Frauen sind, so benannt nach einem Flötenspieler Myklos, der scharf auf Frauen war und wegen seiner Geilheit von Archilochos verspottet wurde.

(In diesen Zusammenhang gehört Fragment 28 D., Jamben, die ich mir selbst zurecht gesetzt habe: »Wie'n Thraker oder Phryger durch die Flöte (= Strohhalm; Oboe) – / mühsam vorgebeugt saugt sie ihr Bier.«)

Epaphrodites (Grammatiker in Rom, 1. Jh. n. Chr.) aber sagt, von »lechos« (= Bett) »lechainein«, »nach dem Bett begehren«, mit Lautänderung »legainein« abgeleitet; daher sagt Archilochos: »die Frauen (aber sind) legai«, im Sinn von »(sexuell) hemmungslos«.

Oft stecken die Leute das Geld, das sie Obolos um Obolos mit vielen Mühen gesammelt haben, laut Archilochos einer Hure in den Leib. …

Aha, die Frau als Sparschwein, die Bauernmoral, wenn schon, dann steck ich mein Geld doch lieber in die eigene Hausfrau, porcella, puella, Cypraea, das Muschelgeld, die Porzellanschnecke, Kaurimuschel mit dem Lächeln der Aphrodite, der vagina dentata, das ist ein weites Feld, das wäre ein eigener Aufsatz, den ich vielleicht doch lieber nicht schreibe, da krieg ich viel rein und raus, das behalt ich lieber für mich. (Vielleicht kommt ja auch mal jemand auf die Idee, meine Gedichte zu lesen.)

Der Neid auf die sexuelle Selbstbestimmung der Frau hat den Archilochos mehrfach zur Hurenschelte verleitet, auch elegisch (15 D.):

Felsigen Eilands Feige, du fütterst zahlreiche Krähen,
     nahmst alle Fremdlinge auf, recht so, du Jedermannsfrau.


Pasiphile heißt sie, »Jedermannslieb« übersetzt Treu richtig. Ich habe mir erlaubt, sie in eine Frau zu verwandeln.

Wo waren wir stehengeblieben? Am Sammelgrab unübersetzter Grammatikerzitate, aus dem wir unser Nachtigalljunges gefischt hatten. Fetzen aus »Glossen«, Griechisch durch Griechisch erklärt, von Altphilologe zu Altphilologe. (Wie hieß gleich der lateinisch weitergeflüsterte Herrenwitz? – »sed fracti sunt (mihi) nervi mentulae«): »Außer den schon erwähnten sind folgende Einzelwörter durch Grammatikerzitate für Archilochos belegt:« 156 Bgk. bin ich nachgestiegen zu Theodor Bergk: Poetae lyrici Graeci / recensuit / Theodorus Bergk / Editio altera auctior et emendatior / Lipsiae, apud Reichenbachios, MDCCCLII (Leipzig 1853) / Londini (London), William & Norgate, David Nutt. Auf Seite 571 steht unter der Nummer 155.(!), in Klammern (123.), alte Zählung (?):

Hesych.: AhdonoV × neossoV × kai to thV
gunaikoV aidoion para Arcilocw
.
coniungunt ahdonoV neossoV, contra Valckenaer
ahdonideuV × ahdonoV neossoV.

Hesych(ius) ist Hesychios aus Alexandria, ein griechischer Grammatiker des 5. oder 6. Jahrhunderts nach Christus, Verfasser des umfangreichsten erhaltenen Lexikons, dessen Titel nach der einzigen (ziemlich fehlerhaften) Handschrift des 15. Jahrhunderts lautet: Sunagwgh paswn lexewn kata stoiceion. h lexiV heißt: das Sprechen; die Rede, die Art des Ausdrucks, der Stil. 2) Redensart, Ausdruck, einzelnes Wort. 3) Ausspruch, Zeugnis. 4) bei den Grammatikern: veraltetes, seltenes Wort, welches einer Erklärung durch ein bekanntes bedarf.

to stoiceion, eigentlich Diminuitiv von stoicoV, kleiner Pfahl; daher 1) an der Sonnenuhr: der Stift, welcher den Schatten wirft. 2) Buchstabe und überhaupt erste Grundlage; daher stoiceia a) Anfangsgründe, Elemente. b) Grundstoffe, Urbestandteile, Elemente der Welt; davon stoiceiow, die Anfangsgründe lehren, to stoiceiwma, Element, Grundstoff, bei Aristoteles ta stoiceiwmata, die 12 Zeichen des Tierkreises.

Das Lexikon des Hesychios wäre also eine »Versammlung aller alten Zeugnisse nach den Grundbegriffen«. Treu nennt nichtmal den Namen!

Warum begreifen wir nichts? Darum. »Wer ›bläst / ißt / beschläft‹ eigentlich wen? Wer packt wen bei den Eiern? Wer hat die Oberhand? Die Mama oder der Papa oder beide?« – fragt Charles Doria in seinem Aufsatz Der Delphin-Reiter – »Leider ist solches Wissen in unserem Denken nicht mehr wirksam; nur in Wörtern verborgen hat es sich erhalten, und die meisten Wörterbücher liefern uns, wenn überhaupt, nur verschämte ›wissenschaftliche‹ Etymologien – symptomatisch für die Art, wie ein überempfindlicher Akademismus dem Leben Information entzieht. Aber vielleicht erwächst der besondere Wert einer Beschäftigung mit der Mythologie gerade aus dieser Situation: sie leitet uns, unsere Wörter, unsere Welt zurück zur Quelle.« (Der Geist in den Wassern. Ein Buch zu Ehren des Bewußtseins der Wale und Delphine zusammengestellt von Joan McIntyre. Verlag 2001 1982; Mind in the Waters 1974, Project Jonah)

McIntyre – »to make the world entire«. – »Wie lange stocherst du eigentlich noch in deinem alten Arschloch rum?«, fragen mich meine »Freunde«. Schon viel zu lange – noch lange nicht genug. Denn ich muß an mir gut machen, was das humanistische Gymnasium an mir schlecht gemacht hat. Ich habe dort viele Jahre lang kein Griechisch gelernt. Mein Freund Albrecht Bomhard hat im Griechischunterricht unter der Bank Lukian gelesen, weil der auf der Bank nicht vorkam. Auf der Bank kam überhaupt nichts vor, was unter die Bank gehört. Weil die Humaniora zur Disziplinierung von Knaben mißbraucht wurden, mußten sie entsexualisiert werden, ad usum delphini. Auf dem Tisch lag der kastrierte Himmel, aber wir durften nicht wissen, daß er kastriert war. Wir gähnten. Kein Delphin weit und breit. Ich besitze heute die alte Ausgabe der Göttergespräche von 1790, aus der mein Freund heimlich übersetzen mußte. Joh. Christoph Bremer, Prorektor am Fürstlichen Gymnasium zu Quedlinburg, zitiert in seiner Vorrede Wieland über Lukian:

Wer bey ihm gähnt, der schnarchte wohl am Busen
Der Venus selbst, und beim Gesang der Musen.


Der gebrannte Schulmann endet seine Vorrede mit einer melancholischen Bemerkung: »Übrigens halte ich diese Lucianschen Dialogen, einiger Stellen gewisser Art ohn erachtet, nicht für unbrauchbar zur Schullektüre. Ein kluger Lehrer – Doch ich schweige, verschiedener Ursachen wegen, hievon lieber ganz und gar.« (H. M. Enzensberger, der kein Griechisch lernen mußte, hat gerade bei Franz Greno eine Auswahl der Wielandschen Lukianübersetzung herausgebracht.)

Was hat Lukian mit Archilochos zu tun? Er zitiert ihn. Und diesem Zitat verdanken wir die Überlieferung eines »bekannten Ausspruchs des Archilochos« (Pseudolog. 1,1 – Ist das der »Lügenfreund«? Dort stehts aber nicht. Treu schweigt sich aus. Zitiert dafür – unübersetzt – acht griechische Verse, mit denen sich im 9. Jh. n. Chr. Konstantinos von Rhodos an seinen Gegner Theodoretos wendet.). Hier Lukian:

Auf dich muß ich schon den bekannten Ausspruch des Archilochos anwenden, daß du eine Zikade am Flügel gepackt hast: wenn du von einem Jambendichter Archilochos gehört hast, der aus Paros stammte: ein sehr freimütiger Mann, der offen zu reden pflegte und kein Bedenken hatte, Menschen zu schmähen, mochte er auch noch so sehr die kränken, die von der Galle seiner Jamben getroffen werden würden. Er sagte zu einem dieser Leute, der sich abfällig über ihn geäußert hatte, der Mann habe eine Zikade am Flügel gepackt. Dabei vergleicht Archilochos sich selbst mit einer Zikade, die schon von Natur und ohne zwingende Veranlassung zum Zirpen aufgelegt, noch lauter ihre Stimme ertönen läßt, sobald sie am Flügel gepackt wird. »Und du von einem bösen Dämon besessener Mensch«, meint er, »worauf willst du hinaus, wenn du einen redefrohen Dichter, der Anlässe und Themen für seine Jamben sucht, gegen dich aufbringst?«

Archilochos könnte gut auch in den Totengesprächen des Lukian vorkommen. Ich kann ihn mir in der Hadesprominenz als Gesprächspartner des Kynikers Menippos von Gadara aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert vorstellen.

Der Konsul Julianos, Präfekt von Ägypten, schrieb fast 400 Jahre nach den Totengesprächen – 1000 Jahre nach Archilochos – ein Epigramm, das Johann Gottfried Herder aus der Griechischen Anthologie (7,70) übersetzt hat:

Wachender Hund der Hölle, verdopple nun alle die Augen
     Deiner Häupter und blick' achtsamer nun um dich her;
Denn Archilochos kommt: hat er mit seinen Jamben
     Aus dem Leben gescheucht Menschen in Todesgewalt,
Wer wird nicht zu entfliehn sich mühn dem Reiche der Schatten,
     Wenn er mit hönendem Ton furchtbar die Stimme erhebt!


Das hat Tradition. Julianos konnte sich auf ein Epigramm des Dioskorides aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert in Alexandria berufen (AG 7, 351): »Auf die Töchter des Lykambes, die der Dichter Archilochos in seinen Jamben in so erstaunlicher Weise verspottete, daß sie sich sogar erhängten«. Ich zitiere die Übersetzung von Hermann Beckby:

Wahrlich, beim Grab hier, dem Bürgen des Eides der Toten, wir Töchter
     des Lykambes um die böses Gerede sich rankt,
haben den Eltern und Paros, der steilsten der heiligen Inseln,
     und dem Jungfrauentum keinerlei Schande gemacht.
Schlimme Beleidigung war es und furchtbare, böse Verleumdung,
     was auf unser Geschlecht häßlich Archilochos spie.
Bei Daimonen und Göttern, auf Straßen nicht, noch in der Hera
     großem heiligem Hain kam uns Archilochos nah.
Wären wir Dirnen gewesen und sündige Mädchen, wie hätte
     er sich gerade von uns ehliche Kinder gewünscht?


Meleagros von Gadara in Palestina, ein Sophist und auch sonst ein Zeitgenosse des Lukian – der aus Samosata am Euphrat stammt und etwa 120 bis 185 nach Christi Geburt lebte – Meleagros hat den alten Vorwurf aufgegriffen und auf den Mißbrauch der Musen-Gabe zugespitzt. Meleagros ist übrigens der Gründer der Griechischen Anthologie. (AG 352 Beckby)

Traun, bei der Rechten des Hades und bei der Persephone dunklem,
    unaussprechlichem Bett schwören wir heilig: wir sind
Jungfraun noch unten im Grab. Was Archilochos höhnend auf unsre
     Ehre so oftmal gespritzt, böse Verleumdung nur war's.
Ach, die herrliche Sprache der Verse verwandte er nimmer
     herrlichen Taten zum Preis, sondern zur Fehde mit Fraun.
Sagt, warum kehrtet ihr, Musen, die schmähenden Jamben auf Mädchen,
     und warum schenktet ihr solch boshaftem Mann eure Huld?


Das ist die Frage. Wer ist die Grille, wer ist die Wespe, wer ist die Nachtigall?

(Das beantworte ich – peinlich genau – im 2. Teil dieser Annäherung)