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  Titel Archilochos Zweiter Teil


ARCHILOCHUS

There used to be a poet named Archilochus
one of the greatest of them all
Oh there's nothing of his poetry now
except some scattered lines

I wish we could hear Archilochus
play his four-stringed lyre
Oh to hear some great poetry
to make the world entire

Oh I learned from Archilochus
about the nightingale
Oh I long to hold the nightingale
nesting in my hands

and I love to spend the Catskill spring
the Catskill spring with you
and you know that there's a hunger there
to touch the nightingale

Oh they talk so elegantly
about eternity
Oh I sing to you Archilochus
to touch the nightingale

And you know that there's a hunger there
to touch the nightingale

Feel the fluttering wings upon my begging lips


»Es gab da mal einen Dichter, Archilochos, einen der größten von allen, aber von seinen Gedichten ist nichts mehr erhalten außer einigen zerstreuten Zeilen. // Ich wollte, wir könnten Archilochos seine Vier-Saiten-Leier spielen hören, ein wenig große Poesie, daß die Welt wieder ganz wird. // Archilochos hat mich die Nachtigall gelehrt. Ich sehne mich danach, ihr Nest in meiner Hand zu tragen, // und ich möchte den Frühling der Catskill-Berge so gerne mit dir erleben. Und du weißt, daß es diesen Hunger gibt, die Nachtigall zu berühren. // Wie reden sie so gewandt von der Ewigkeit, aber ich singe dir den Archilochos, um die Nachtigall zu berühren. // Du weißt, daß es diesen Hunger gibt, die Nachtigall anzufassen. // Fühl doch die flatternden Flügel auf meinen flehenden Lippen.«

Also, das war Ed Sanders. Durch dieses Lied bin ich auf diese Spur gekommen. Es interessierte mich, dem nachzugehen: »to touch the nightingale«, und er sagt, daß ers von Archilochos gelernt hat, und ich habe nun im Schreibheft zum 50. Geburtstag von Hubert Fichte eine Recherche gemacht nach diesem Vorkommen der Nachtigall bei Archilochos. Das war sehr kompliziert, und das ist dort detailliert dargestellt. Ich sage Ihnen nur, was dabei herausgekommen ist – sehr mühsam – nämlich, daß ein Grammatiker, Hesychios, eine Zeile oder eine Metapher von Archilochos überliefert hat, er habe das Geschlecht der Frau »Nachtigalljunges« genannt, und das heißt aädonideús (ahdonideuV) – aädon (ahdwn) ist die Nachtigall, und aädonideús (ahdonideuV) ist das Junge der Nachtigall – und das steht dort bei diesem Grammatiker erklärt, täs gynaikòs aidoion (thV gunaikoV aidoion), das Geschlecht der Frau, ja? Das klingt alles ganz leicht, war sehr schwer zu finden. Ich habe am Ende dieses Aufsatzes etwas versprochen, nämlich zu sagen, wer eigentlich in diesen Metaphern verborgen ist. Archilochos selbst nennt sich eine Zikade, was man im Norden gern mit Grille übersetzt. Er wurde eine Wespe genannt, er wurde eine Nachtigall genannt. Und ich habe versprochen etwas sehr Leichtsinniges: im zweiten Teil dieses Vortrags peinlich genau zu erklären, was was ist.

Es gibt auf der griechischen Insel Paros, wo Archilochos die meiste Zeit gelebt hat, wo er herkommt, ein Archilocheion, das teilweise ausgegraben worden ist. Ein Heiligtum mit Inschriften und Legenden aus seinem Leben. Ich lese eine wichtige und zentrale Legende vor:

Man erzählt, daß Archilochos, als er noch recht jugendlich war, von seinem Vater Telesikles aufs Land geschickt worden sei, in die Gemarkung, die Leimones (die Auen) heißt, eine Kuh zum Verkauf (in die Stadt) zu führen, und er sei aufgestanden recht früh bei der Nacht, während der Mond schien, und habe die Kuh zur Stadt geführt. Als er aber an den Platz kam, der Lissides (schlüpfrige Stellen) heißt, da habe er eine Schar Frauen zu sehen vermeint. Er sei der Meinung gewesen, sie kehrten von ihrer Arbeit in die Stadt zurück, habe sich ihnen genähert und sie geneckt, sie aber hätten das mit Scherz und Lachen aufgenommen und ihrerseits gefragt, ob er die Kuh zu Markte führe: Als er das bejahte, hätten sie gesagt, sie würden ihm einen angemessenen Preis zahlen. Kaum war das gesagt, so wären weder sie selbst noch die Kuh zu sehen gewesen, zu seinen Füßen aber habe er eine Leier erblickt. Da sei er erschrocken über alle Maßen, aber als er nach einer Weile zu sich kam, habe er begriffen, daß es die Musen waren, die ihm erschienen und die Leier ihm zum Geschenk machten. Er habe die Leier aufgehoben und habe den Weg zur Stadt fortgesetzt und dem Vater berichtet, wie ihm geschah.

Diese Schilderung hat eine gewisse Parallele zu einer Musenberufung des Dichters, wie sie vorgeprägt ist von Hesiod, aber wie sie vor Hesiod nicht existiert. Mir kommt es darauf an herauszukriegen, auch was die Musen sind in diesem Dreieck Nachtigall – Zikade/Grille – Schwein. Das kommt noch.

Hesiods Theogonie beginnt mit einer Schilderung der Musen, mit einer Musenanrufung. Ich lese das vor:

… // Diese Göttinnen haben eines Tages / Hesiod schönen Gesang gelehrt, / Wie er die Schafe weidete / Am Hang des gotterfüllten Helikon. / Und das war das Wort, das im Anbeginn / Die Göttinnen zu mir sprachen, / Sie, die Musen des Olymp, des Aigisherren Töchter: / »Ihr Hirten, unbehauste, traurige Gesellen, / Nichts als Bäuche, / Wir wissen trügenden Schein in Fülle zu sagen, / Dem Wirklichen ähnlich, / Wir wissen aber auch, wvnn es uns beliebt, / Wahres zu künden.« / So sprachen des großen Zeus Töchter / Die über das rechte Wort verfügen, / Und gaben mir den Stab des Sprechers, / Des starksprossenden Lorbeers Zweig, / Ihn mir zu brechen, den bewunderten, / Und hauchten mir Stimme ein, göttliche, / Auf daß ich rühme, was sein wird / Und was vorher gewesen, / Und sie hießen mich preisen der Seligen Geschlecht, / Der fort und fort Seienden, / Sie selber aber zuerst und zuletzt alle Zeit zu singen. // Aber wozu erzähl ich das, / Geschichten vom Baum oder Fels? / … / Und ihre Stimmen erklingen wie eine. / Und ihnen strömt ohne Ermatten die Stimme / Hervor aus dem Munde, süß. / Es lacht das Haus des Vaters, / Des machtvoll donnernden Zeus, / Wenn der Göttinnen lilienklarer Schall sich ausbreitet; / Es hallen wider die Gipfel des schneeigen Olymp / Und die Wohnstätten der Unsterblichen. / Sie aber senden aus die Botschaft unvergänglicher Rede / Und rühmen zuerst in ihrem Sang / Der Götter ehrwürdiges Geschlecht von Anbeginn an, / Die Kinder waren der Erde und des weiten Himmels, / Und die von diesen Sprossen entstammen, / Die Götter, Spender der Güter. // … // Wahrlich, zuallererst entstand / Die gähnende Lere (Chaos), / Alsdann aber die Erde (Gaia) mit ihrer breiten Brust, / Fort und fort sicherer Sitz von allen, / Und Eros (das Liebesbegehren), der der schönste ist / Unter den todfreien Göttern, der Gliederlösende, / Aller Götter und aller Menschen / Sinn und verständige Absicht / Bezwingt er in ihrer Brust. // … / Die Erde (Gaia) aber brachte zuerst hervor / Gleich weit wie sie selber / Den Himmel (Uranos), den gestirnten, / Daß er sie überall einhülle, / Auf daß er sei den seligen Göttern / Fort und fort Sitz ohne Wanken. / Und sie gebar die weiten Berge, / Der Göttinnen reizvolle Behausungen, der Nymphen, / Die in den schluchtenreichen Bergen wohnen. / Sie gebar auch das unfruchtbare breite Wasser, / Das im Wogenschwall stürmt, das Meer (Pontos), / Ohne verlangende Liebe. / Aber darauf hielt sie Beilager mit dem Himmel / Und gebar den Okeanos, ihn mit seinen tiefen Wirbeln, / … // Sie gebar auch die Kyklopen, / … // All die Söhne also, / Die Erde und Himmel entsprossen, / Waren die gewaltigsten Kinder, / Verhaßt waren sie ihrem eigenen Vater, / Von Anbeginn an. / Und sogleich, wenn einer von ihnen geboren war, / Verbarg er sie einen um den anderen / Und ließ sie nicht empor zum Licht, / In der tiefen Höhlung der Erde, / Und es hatte seine Freude am schlimmen Tun der Himmel. / Sie aber stöhnte in ihrem Innern, / Die ungeheure Erde, bedrängt; / Einen listigen, schlimmen Kunstgriff / Dachte sie sich aus. / Und sogleich schuf sie die Sippschaft / Des grauen Adamas (Unbezwingbar)

Das ist der Feuerstein, nämlich der graue, unbezwingliche Adamas. Der – wie sagt man hier? Flint. Flint sagt man hier.

Fertigte draus eine riesige Sichel / Und wandte sich an ihre Kinder; / Und, ihren Mut zu erregen, sprach sie, / Unwillig in ihrem Herzen: / »Ihr meine Kinder, Kinder eines ruchlosen Vaters, / Vielleicht, daß ihr gewillt seid, mir zu folgen, / Laßt uns vergelten des Vaters schlimme Schandtat, / Wenn er auch euer Vater ist; / Denn er hat begonnen und häßliche Taten erdacht.« / So sprach sie, aber die alle packte Furcht, / Und keiner von ihnen sprach. / Mut aber faßte der große, Krummes sinnende Kronos, / Und alsbald sprach er zu seiner Mutter mit den Worten: / »Mutter, ich bin es, der willens zu versprechen / Und so auch zu vollbringen dieses Werk, / Weil ich Rücksicht nicht kenne für einen Vater, / Dessen Name zu verabscheuen ist, / Wenn er auch unser Vater ist. / Denn er hat begonnen und häßliche Taten erdacht.« / So sprach er, und es freute sich sehr im Herzen / Die ungeheure Erde. / Und sie verbarg ihn / Und stellte ihn in einen Hinterhalt, / In seine Hände gab sie die scharfgezahnte Sichel; / Ganz vertraute sie ihm die List nun an. / Und es kam, die Nacht heraufführend, / Der riesige Himmel, / In Verlangen nach Liebe hielt er die Erde umfangen / Und breitete sich über sie, überall. / Der aber langte aus dem Hinterhalt, / Der Sohn, mit seiner Linken, / Mit der Rechten aber faßte er fest / Die ungeheure Sichel, lang, scharfgezahnt, / Schwang sie und schnitt ab des eigenen Vaters Gemächte, / Und rückwärts warf er es, daß es hinter ihn fiel. / Es blieb aber nicht ohne Wirken, / Als es aus seiner Hand dahinflog, / Denn all die blutigen Tropfen, die herabstürzten, / Sie alle nahm die Erde auf, / Und wie das Jahr sich gerundet zum Kreis, / Gebar sie die machtvollen Erinyen / Und die riesigen Giganten, / Strahlend in Wehr, / Lange Lanzen im festen Griff ihrer Hände, / Und die Nymphen, die sie die Eschenen nennen / Über die unendliche Erde hin. // Das Gemächte aber, als er die Tat gewagt / Und es mit der Sichel abgeschnitten / Und von der Feste in die vielwogende See geworfen, / Trieb so in die Weite dahin lange Zeit, / Ringsum aber erhob sich weißer Schaum / Aus dem unvergänglichen Fleisch. / Und in dem wuchs ein Mädchen heran. / Zuerst trieb es nahe an das hochheilige Kythera, / Von da kam es dann zum ringsumbrandeten Kypros. / Und heraus schritt da die ehrwürdige, schöne Gottheit, / Unter dem Tritt ihrer schlanken Füße / Schoß auf ringsum die Wiese. / Sie nennen sie Aphrodite, Götter wie auch Menschen, / Weil sie im Schaum (aphrós) heranwuchs; / Kythereia aber, weil sie Kythera genaht war, / Und Kyprogenes, weil sie geboren ist / Im vielumwogten Kypros, / Und die das Lächeln Liebende / (Zugleich: Schamteile Gern-Habende), / Weil sie aus den Schamteilen erschienen ist. / Ihr gab Eros das Geleite, / Und Himeros (die Sehnsucht), der Schöne, folgte ihr, / Vom Anbeginn, wie sie erstanden war / Und wie sie zu der Götter Schar schritt. / Und das ist ihr Vorrecht, das ihr von Anbeginn gehört, / Und das der Anteil, der ihr unter Menschen / Und todüberhobenen Göttern zufiel durchs Los: / Mädchengeflüster und Lachen und Hintergehen / Und süßes Erfreuen und Lust und Kosen. // …

Hesiod erlaubt sich hier so etwas, was man in der Moderne eine Zote nennt: Die Aphrodite heißt immer Philomeidäs (jilomeidhV) Das ist die »das Lachen Liebende«. Indem aber Hesiod sagt, »die das Lächeln Liebende«, weil sie aus den Schamteilen entstanden ist, macht er einen Wortwitz und sagt gleichzeitig Philomädäs (jilomhdhV), und das heißt: »die die Schamteile Liebende«. Das ist eine wichtige Ausgangsposition, das Lächeln und die Scham zusammenzubringen.

Es gibt im Phaidros von Platon einen Zikadenmythos. Ich lese ihn abgekürzt vor. Ich merke, das ist etwas länger geworden, als ich dachte, aber vielleicht, wenn Sie die Kraft und Ausdauer aufbringen, es sind auch wichtige Dinge. Sie liegen zwar vor in Bibliotheken, aber sie kommen selten zu sich und selten zu uns und selten zusammen. Und ich habe mir vorgenommen, diese Dinge zusammenzubringen, ja?

Im Phaidros geht es um das Halten einer Rede und um Redenhalten, um freies oder schriftliches Reden. Lernt man es vom Rhetor, vom Sophisten, vom Rhetorikprofessor, oder lernt man es von den Musen, lernt man es von der Intuition?

Sokrates: … Man sagt, die Zikaden seien Menschen gewesen, vor der Zeit der Musen. Nach der Geburt der Musen aber, als der Gesang erschien, da gerieten einige der damals Lebenden in so freudige Erregung, daß sie singend Speise und Trank vergaßen und, ohne es selbst inne zu werden, dahinstarben. Aus ihnen nun erwächst seitdem das Geschlecht der Zikaden, das von den Musen dies als Geschenk empfing, daß sie von Geburt an keine Nahrung brauchen, sondern ohne Speise und Trank sogleich singen, bis sie sterben, dann aber zu den Musen kommen und ihnen verkünden, wer hier auf Erden eine von ihnen verehrt. …

Herder hat über den Zikadenmythos im Phaidros ein Lehrgedicht geschrieben [Die Feldheimen]. Es sei hier erwähnt, weil es niemand kennt.

Die Beziehung von dem Nachtigalljungen zur Zikade ist ungefähr so beschaffen, daß die eigene menschliche Stimme etwa identisch ist mit dem eigenen Geschlecht. Der Mensch kommt zu sich singend oder, obszön gesprochen, vögelnd. Das ist die Metaphernebene von Archilochos, ja?

Es kommt zum Vorschein, daß in zahlreichen Gedichten der Griechischen Anthologie die Nachtigall die Zikade vertritt. [Indiz für die Beziehung Nachtigall – Zikade: »Hirten, was fangt ihr mich rücksichtslos weg von den taufrischen Blättern, / mich, die Zikade, die ich Freundin der Einsamkeit bin, / die ich am Wege, als Nachtigall freundlicher Nymphen, zum Mittag / hellstimmig singe, am Berg, wie auch im schattigen Tal?« (unbekannter Dichter, übersetzt von Dietrich Ebener)] Die Zikade wird von Wieland und von allen nördlichen Dichtern mit der Grille übersetzt, weil es bei uns keine Zikaden gibt. Es gibt aber eine wichtige Entsprechung: Die Zikade ist eine Hymenoptere, also ein Hautflügler wie auch die Biene, wie auch die Grille, wie auch die Heuschrecke. Die Altphilologen haben eine bestimmte Etymologie nicht gern, daß nämlich die Hymne von dem Hymen kommt, aber es ist sehr wahrscheinlich, weil eine der häufigsten Hymnen das Hochzeitslied war mit dem ständigen Refrain Hymén, Hymenáios, Hymén, ja? Und das ist der Hochzeitsgott, Hymen, ja? Und das ist, medizinisch gesprochen, diese Unaussprechbarkeit. Weiß nicht, wie man das nennt. Diese Parallele ist wichtig. Und im Bilde gesprochen ist sozusagen das Zweitürige oder Zweilippige wichtig. Je nachdem, ob man es so hält oder so, horizontal oder vertikal. Ja, das ist sehr wichtig. Das Zweilippige ist das Schamlippige, und wenn Archilochos sagt, das Geschlecht der Frau sei das Nachtigalljunge, dann geht er von dem Bild aus, daß die Nachtigall das weibliche Geschlecht füttert, nämlich den aufgesperrten Schnabel des Nachtigalljungen.

Da kommen wir zum nächsten wichtigen Glied, wir sind auf dem Weg zum Schwein – das mit dem Glied ist auch nicht nur ein Witz, sondern auch etymologisch wichtig. Melos (meloV) heißt das Glied und das Lied und die Melodie, das Gegliederte. Also, wir haben das Wort Hymen, wir haben das Wort melos, wir werden weitere Mord… Worte – Morde hoffentlich nicht begehen (Lachen im Publikum) – finden. Wenn die Aphrodite das Lächeln liebt, Philomeidäs / Philomädäs ist, weil sie aus den Schamteilen entstanden ist, dann ist es auch an der Zeit, eine nach ihr benannte Meeresschnecke vorzuzeigen, die Cypraea. Das ist die Porzellanschnecke, die Kaurimuschel, von alters her, von allerältesten Zeiten her, längst vor der Schriftüberlieferung, ein wichtiges symbolisches Ding. Es substituiert die weibliche Scham, das weibliche Geschlecht, und heißt Cypraea, also die Venusmuschel. Sie ist oft beschrieben worden als die vagina dentata, ja, (Lachen) – ja, ich meine die das Lachen und die Schamteile Liebende, ja, (Lachen) das ist – dann zeigen wir auch die Zähne beim Lachen (Lachen)…

Da ich schon einmal meinen gelehrten Weg verlassen habe, (Lachen) muß ich improvisieren, und es scheint Sie ja auch zu unterhalten. (Lachen) Wir sind in dieser Reihe auf dem Weg zum Schwein. (Lachen) Die Schnecke heißt Porzellanschnecke, ja, und das Porzellan hat von ihr seinen Namen. Das hängt auf seltsame Art zusammen: porcus heißt das Schwein, porca ist die Sau, das weibliche Schwein, porcella ist das weibliche Ferkel, das junge weibliche Schwein, und porcella hieß lateinisch gleichzeitig die Scham der Frau. Das gleiche Wort gab es auch auf griechisch: delphákion (deljakion). Das ist ein Ferkelchen und zugleich die weibliche Scham. Es ist die gleiche kleine Obszönität, die in Italien noch gebräuchlich ist, porcella heißt das. Diese Schnecke hieß so, und sie heißt gleichzeitig lateinisch Cypraea von alters her, und der Name ist auch von Linné aufgegriffen worden als Gattungsbezeichnung. Als nun sehr spät zu uns aus China diese gebrannte Erde kam, etwas, was besser war als Keramik, nämlich Porzellan, aber noch keinen Namen hatte, nämlich diesen nicht, hat man sich erinnert an den Glanz dieser Meeresschnecke, die porcella hieß. Und daher kommt der Name Porzellan. Also die Tassen, die wir im Schrank haben, sind in irgendeiner Weise der Glanz des verdrängten weiblichen Geschlechts. (Lachen)

Die Kaurimuschel heißt zoologisch Cypraea moneta. Das ist das Kaurigeld, das Muschelgeld. Man findet speziell diese hier in alemannischen Frauengräbern in der Schoßgegend niedergelegt, mehrfach gefunden, und in anderen Gegenden der Welt auch. Porzellan imitiert den Glanz von Perlmutter. Perlmutter ist die Mutter der Perle. Auf englisch ist das viel deutlicher. Man sagt nämlich mother of pearl. Bei uns sagt man meistens Perlmutt, das klingt so wie Schildpatt. Da ist man abgelenkt von der Herkunft, ja? Der Glanz der Perlmutter ist in dem deutschen Wort Perlmutt nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen, ja, auf den zweiten aber schon. Perlmutter gibt es nur im Inneren der Muscheln und Schnecken. Concha ist die Muschel, sie ist wie die Zikade zweilippig, zweiflügelig, ja, hat zwei Hälften. Perlmutt gibt es im Inneren. Eigentlich ein tabuisierter Glanz, denn der Preis, diesen Glanz sichtbar zu machen, ist das geopferte Tier. Nur an den Stellen, wo das Fleisch der Muschel oder das Fleisch der Schnecke die Schale berührt, bildet sich Perlmutt aus. Deshalb haben Muscheln von außen keinen Glanz, sondern Kalk oder Chitin. Von innen haben sie den Glanz. Dieser Glanz wird erst sichtbar durch den Bruch eines Tabus: Man muß das Tier töten. Es ist eine Opferung, ja?

Das Kaurigeld war ein wichtiges Brautgeld. Das kann man nun genauer nachlesen, in dem Buch von Horst Kurnitzky, Triebstruktur des Geldes. Indem durch den Brautkauf der Frau historisch ihre sexuelle Selbstbestimmung abgekauft wurde, wurde dieser Glanz zu Geld, grob gesprochen. Das ist die Genese des Geldes. Es hat also ein Opfer stattgefunden, so wie später auch eben Opfer stattfanden, ursprünglich wirkliche Menschenopfer, später Tieropfer. Das ganze Geld ist auf diese Weise entstanden. Die alten Orakelstätten wie Delphi, Olympia usw. waren ursprünglich Opferstätten. Es wurden dort wahrscheinlich ganz am Anfang sogar Menschen, später Tiere geopfert. Da diese Orakelstätten aber derartig berühmt und überlaufen wurden, konnte man das geopferte Tierfleisch nicht mehr aufessen, ja? Man mußte es substituieren. So entstand pecunia. Pecus heißt das Vieh, ja, das Stück Rind. Wenn ich also nicht mehr ein Stück Rind opfern kann oder einen tragos (tragoV), einen Bock in der Tragödie, dann muß ich den Gegenwert entrichten. Und es gibt tatsächlich überlieferte Kupferplatten oder Edelmetallplatten, wo ein Stück Rindvieh abgebildet ist, ja, pecus, oder ein Schwein und dergleichen. Und in diese Geldreihe gehört auch die Porzellanschnecke, die Cypraea. Sie hat eine wichtige Besonderheit: Sie trägt Perlmutt auch außen. Sie ist ganz von Perlmutt umhüllt. Das liegt daran, daß ihre – um im Bilde zu bleiben, verzeihen Sie mir das – Schamlippen das Gehäuse umkleiden, so daß eigentlich die Schutzfunktion gar nicht mehr da ist. Das Tier zieht sich nicht ganz zurück, sondern die Lappen des Mantels umhüllen diese Schale, so daß sie auch von außen diesen Porzellanglanz, Porcellaglanz, erhält.

Weshalb ist das so begehrt worden und so begehrenswert geworden? Ich denke, es ist sozusagen die durch das Opfer erzielte Verweilstufe eines Glanzes, der sonst nur durch Feuchtigkeit entsteht. Wenn ich einen bunten Kiesel finde am Strand, hebe ich ihn auf, weil er bunt ist. Und warum ist er bunt? Weil er naß ist. Ich nehme ihn mit nach Hause und zeige ihn, und die Leute finden ihn nicht besonders, weil er inzwischen trocken ist. Das heißt, Perlmutt, Email, Goldähnliches, ja, ist sozusagen die Verweilstufe eines Glanzes, der nur in erleuchteten oder anderen erfüllten Augenblicken stattfindet. Ist das soweit klar?

Archilochos hat einen Gotteslästerungsprozeß gehabt, weil er ein obszönes Gedicht auf den Dionysos gedichtet hatte. Das ist nur in einigen Zeilen und Worten erhalten. Man hat ihn verbannt auf die Nachbarinsel, und es gab eine nicht vorhersehbare, aber sehr deutliche Folge: Die Männer auf seiner Insel wurden impotent. Man ist nach Delphi gegangen und hat sich erkundigt, was denn da los sei und wie man das wieder rückgängig machen könne. Und es gab Orakelsprüche, man müsse den Archilochos wieder zurückholen auf die Insel und dann würde das auch wieder laufen. Das ist eine weitere Legende des Archilochos. Dies hat stattgefunden, und die Männer haben ihre Zeugungskraft zurückerhalten.

Archilochos hat sich selbst Zikade genannt, Tettix (tettix), und er ist von einem Mann – er war selbst ein Krieger – erschlagen worden, der Korax (korax) hieß, Rabe. Also: »Der Rabe hat die Zikade gefressen. / Aber das Zirpen kann ich nicht vergessen.« Dieser Mann, Korax, der Rabe, wollte sich von dem Mord an Archilochos entsühnen und ist nach Delphi gegangen. Und ihm wurde die Entsühnung verweigert, die Absolution, weil er einen Musensohn getötet, ermordet habe. Er hat gesagt: Ich habe ihn nicht als Dichter ermordet, sondern im freien Kampf. Er wurde zwei- oder dreimal abgewiesen. Beim dritten oder vierten Mal bekam er die Aufgabe, zum Hadeseingang zu gehen; dieser Hadeseingang heißt Tettix, weil er von einem Mann namens Tettix gegründet war. Dieser Hadeseingang war in der Antike überliefert und ist heute noch zu besichtigen an der Südspitze des Peloponnes, der sogenannte Tainaron.

Also, der Dichter Archilochos, der sich selbst eine Zikade genannt hat, Tettix, wurde von einem Mann namens Rabe erschlagen. Diesem wurde die Absolution verweigert, weil er eine Zikade erschlagen hat, ein Musenkind, einen Sänger, einen Vertrauten Apolls. Die Aufgabe war, sich am Hadeseingang gleichen Namens mit der Totenseele des Archilochos zu versöhnen. Der Hadeseingang ist immer ein Erdeingang und ist zweilippig. Es ist eine Flügeltür, keine einfache Tür mit Griff, die nach einer Seite aufgeht, sondern eine Flügeltür, so wie die Hymenopteren eine Flügeltür haben, wie die Muscheln eine Flügeltür haben. Eine solche Tür ist der Hadeseingang, weil er ein Erdeingang in die Unterwelt ist und weil die Erde die Gaia ist, die den Uranos entmannt hat, wie ich ihnen das vorhin lang und breit vorgelesen habe.

Dies alles zu berichten und zu enthüllen, ist in irgendeiner Weise auch schamlos. Die Scham hängt so ein bißchen zusammen mit dem Ausplauderverbot der Pythagoräer. Die Pythagoräer durften ihre Weisheiten und Erkenntnisse nicht ausplaudern. Zum Beispiel durften sie nicht ausplaudern, wie der Dodekaeder zusammengesetzt ist. Ein Mathematiker, der es trotzdem getan hat, ist im Meer ertrunken. Ich hoffe, daß mich nicht Ähnliches trifft, wenn ich nicht ausplaudere, aber daran erinnere, weshalb die Pythagoräer keine Bohnen essen durften. Sie durften keine Bohnen essen, weil die Bohnen Aufenthaltsorte von Geistern, von Dämonen und Verstorbenen waren. Das waren sie aber, weil sie zweilippig waren und sind. Das heißt, sie sind wie die Zikade, wie die Muschel, wie die Scham, wie der Eingang in die Unterwelt. Deswegen durften die Pythagoräer die Bohnen nicht essen.

Es gibt ja Leute, die haben seltsame Namen, z. B. der Dichter Grillparzer. Deshalb, mehr kuriositätshalber und weil es mir gerade in die Hand kommt, ein Jugendgedicht von ihm, Elegie auf den Tod einer Grille:

… Zwar nur eine kleine Grille
Ist es, was mein Lied beweint,
Aber diese niedre Hülle
Barg mir einen lieben Freund. …


Es ist ein schlechtes Gedicht. Aber was er da gemacht hat, hatte eine uralte Tradition; nämlich die Griechische Anthologie wimmelt von Grabschriften auf Heuschrecken, Zikaden und Nachtigallen.

Ich hatte vorhin einfach nur behauptet, daß sozusagen in den Gedichten Nachtigallen die Funktion der Zikaden und der Grillen übernehmen können. Ich habe versucht zu erklären, weshalb die Muschel und das Schwein mit in dieser Reihe sind. Ich will dies mit dem Schwein noch ein wenig – damit das nicht so absurd bleibt – näher erklären. Es hängt nämlich mit Delphi zusammen. Ich habe schon gesagt, das griechische Wort für porcella ist delphakion (deljakion). Und delphis (deljiV) heißt das Schwein oder der Delphin. Der Delphin ist das Meerschwein. Apoll hat in Delphi, das ursprünglich ein Erdmutter-Heiligtum war, an der Kastalischen Quelle eine weibliche Schlange getötet, die Delphyne, ja? Das ist wichtig, daß er das getan hat. Und delphys (deljuV) ist die Gebärmutter.

Sie erinnern sich an diesen Kultroman oder an dieses Kultbuch, Schweine mit Flügeln von Rocco und Antonia, ja? Oder erinnern Sie sich nicht? Porci con le ali. Ja, darin gibt es ein wichtiges Motto von David Cooper aus dem Tod der Familie. Und ich darf ihnen das vielleicht jetzt mal vorlesen. Bleiben Sie doch ruhig noch ein bißchen da, es kommt noch was. Es kommt sogar noch das Beste, ja, das denkt man nicht nach so langer Zeit, aber das kommt schon. (Lachen)

Natürlich sind Menschen Schweine. Und menschliche Institutionen sind natürlich Schweineställe oder Schweineproduktionsfarmen und Schlachthäuser für Schweine. Wenn Schweine Flügel hätten, wie ein altes englisches Sprichwort sagt, wäre alles möglich. Aber vielleicht haben Schweine wirklich geheimnisvolle, unsichtbare Flügel, und vielleicht sehen wir diese Flügel nicht, weil wir Angst haben, daß alles möglich werden könnte. Wenn dem so ist, sind wir Schweine mit entweder unsichtbaren oder verkümmerten Flügeln. Für manche Leute sind die Flügel lediglich unsichtbar, können vielleicht jedoch jeden Augenblick sichtbar gemacht werden. Andere werden mit ihren verkümmerten Flügeln nie, auch im Traum nicht, aufsteigen und fliegen.

Und das alte englische Sprichwort, daß die Schweine Flügel haben, ist überliefert von Lewis Carrol in Through the Looking Glass, Alice hinter den Spiegeln, und heißt auf englisch:

The time has come, the Walrus said,
to talk of many things:
of shoes – and ships – and sealing-wax –
of cabbages – and kings –
of why the sea is boiling hot –
and whether pigs have wings.


Dieser Satz ist von Christian Enzensberger übersetzt worden:

Die Zeit ist reif, das Walroß sprach,
Von mancherlei zu reden –
Von Schuhen – Schiffen – Siegellack,
Von Königen und Zibeben –
Warum das Meer kocht und ob wohl
Die Schweine manchmal schweben.


Das Walroß und der Zimmermann, zwischen denen dieses Gespräch stattfindet, schlürfen schließlich alle Austern aus, die ihnen in Viererreihen treuherzig gefolgt waren.

Aus dem Roman von Rocco und Antonia, diesem Briefreman, lese ich Ihnen noch eine ganz kurze Stelle vor:

Im Autobus, als wir zum Treff fuhren, war ich ein bißchen auf dem Innerlichkeitstrip. Rocco dagegen war ein Monument an Zärtlichkeit, er gab mir Küßchen auf Küßchen, nannte mich Porcellina, mein Ferkelchen, und wenn mir einer ins Ohr bläst, schütteln mich regelmäßig siebenhundert Schauer, die Brustwarzen werden mir fest wie Himbeeren und zu allem Überfluß kann ich mir das Lachen nicht verkneifen. Und je öfter er Porcellina, Porcellina zu mir sagte, um so mehr prustete ich wie ein Ferkel los.

Ich habe Ihnen gesagt, daß Archilochos einen Gotteslästerungsprozeß hatte, weil er ein obszönes Dionysos-Lied gesungen hat. Und ich habe Ihnen auch den Ausgang genannt. In einer homerischen Ode auf Dionysos fangen thrakische Seeleute einen schönen Jüngling, der am Felsen sitzt und wollen ihn in die Sklaverei verkaufen. Er entpuppt sich als Dionysos. Sie merken es ursprünglich nicht, sie wissen es nicht. Er verwandelt sich in einen Löwen und läßt einen Bären an Bord kommen und treibt sie alle in die Flucht, und sie tauchen ins Meer ein als Delphine. Das steht so bei Nonnos, und er sagt, daß so die Delphine entstanden sind.

Es gibt viele Bezüge. Es ist die Frage, weshalb sich die Metapher von der Nachtigall und von der Rose so zäh gehalten hat. Meine These ist: Die unerklärte, unanalysierte Metapher ist wirksam, weil sie nicht analysiert ist. Ich muß Sie also auffordern, das alles wieder zu vergessen, was ich Ihnen gesagt habe. Die Assoziation von Nachtigall und Rose wirkt nur, weil sie nicht dechiffriert ist. Jeder, der es nicht weiß, weiß es. Er weiß es sehr intensiv nicht. Es ist eine Form des metaphorischen Sprechens, das sozusagen die Intensität bezieht durch die Metapher, durch das Geheimnis eigentlich. Nachdem ich so viel enthüllt habe, will ich zum Ende Ihnen nun auch wirklich einen burlesken Schluß nicht vorenthalten, und zwar – zwischendurch müßte man natürlich Theodor Storm zitieren, Die Nachtigall:

Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von rein süßen Schall,
Da sind von Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.


Und dann kommt die Beschreibung eines Mädchens nach dieser Nacht, und dann kommt noch einmal diese Strophe. All diese Dinge müßte man zusammentragen und im Gedächtnis behalten. Dann könnte man bei Hans Christian Andersen das Märchen lesen von der Nachtigall in einem goldenen Käfig. Dann könnte man Goethes West-Östlichen Divan lesen:

Bulbuls Nachtlied durch die Schauer
Drang zu Allahs lichtem Throne,
Und dem Wohlgesang zu Lohne
Sperrt' er sie in goldnen Bauer.


Jetzt kommts:

Dieser sind des Menschen Glieder.

Wer hätte das gedacht!

Zwar sie fühlet sich beschränket;
Doch, wenn sie es recht bedenket,
Singt das Seelchen immer wieder.


Bulbul ist die türkische Nachtigall, die buhlerische.

Es wäre jetzt an der Reihe, nach Zikade, Grille, Nachtigall und Schwein über den Schmetterling zu reden, über die Psyche, über das Seelenvögelchen. Ich unterlasse es, will aber doch darauf hinweisen, daß dies hier von Germanisten eigentlich nicht interpretiert wurde: »Sperrt' er sie in goldnen Bauer«: Allah die Nachtigall, ja? »Dieser sind des Menschen Glieder.« An anderer Stelle – Goethe war ja auch sozusagen gehemmt zu enthüllen, also: »Sag es niemand, nur dem Weisen«; aber das ist dann auch wieder sehr platt, ja? Er hat sich auch einmal in großer Nähe zum Nachtigalljungen aufgehalten, in einem, in zwei Distichen, Philomele:

Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, fütternd erzogen;
     Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost.
So, durchdrungen von Gift die harmlos atmende Kehle,
     Trifft mit der Liebe Gewalt nun Philomele das Herz.


Also klassizistisch, ein bißchen rokokohaft vertändelt, im großen und ganzen das, was der Archilochos auch sagt, was Goethe auch weiß, aber nicht sagt. Müßte man eigentlich ein zweites Mal vorlesen – zu wenig Zeit, denn jetzt kommt ein seltsamer Höhepunkt. – Sag ich nur, damit Sie auch wirklich hierbleiben.

Es gibt nämlich von Boccaccio – Wie spät ist es denn? Schon zu spät? (Aus dem Publikum: Nee, es ist elf Uhr). Es ist elf Uhr. – Es gibt etwas Schönes von Boccaccio im Decamerone. Boccaccio ist ja auf uns bezogen ziemlich früh und auf die Antike bezogen ziemlich spät, (Lachen) nämlich er ist 1375 gestorben, aber wer von uns ist schon 1375 gestorben? (Lachen) Eine Liebesgeschichte, sie können sich nicht treffen, wie das so immer ist, und er bittet: »Laß mich nicht vor Liebe sterben!«

Nach tausend ausgetauschten Küssen legten sich beide nieder und genossen fast die ganze Nacht hindurch alle Lust, die Liebende einander gewähren können, wobei sie denn begreiflicherweise die Nachtigall gar vielmals schlagen ließen. Nun geschah es aber, da ihre Freuden groß, die Nächte aber damals kurz waren und sie den Tag nicht so nahe vermuteten, wie er es wirklich war, daß sie beide, von der warmen Luft sowohl als auch von ihren Liebesspielen erhitzt, völlig unbedeckt einschliefen und daß Caterina, die den rechten Arm unter Ricciardos Hals gelegt hatte, mit der linken Hand das Ding festhielt, das ihr Mädchen euch, zumal vor Männern, zu nennen scheut. / Während sie noch so fortschliefen, überfiel sie der Tag, ohne sie zu wecken. Inzwischen war Messer Lizio aufgestanden, und da ihm eben einfiel, daß seine Tochter auf dem Erker schlief, sagte er bei sich selbst: »Sehen wir doch einmal nach, ob die Nachtigall diese Nacht Caterina einen besseren Schlaf geschenkt hat.« Damit ging er leise auf den Erker hinaus, hob den Vorhang auf, der um das Bett gespannt war, und erblickte sie nackt und bloß und so mit Ricciardo vereint, wie es vorhin beschrieben worden ist, schlafen. Sobald Messer Lizio vollkommen sicher war, daß es Ricciardo sei, schlich er sich wieder fort, ging in das Schlafgemach seiner Frau und weckte diese mit folgenden Worten: »Hurtig, Frau, steh auf und komm geschwind, um anzuschauen, wie deine Tochter an der Nachtigall so viel Wohlgefallen gefunden, daß sie diese gefangen hat und noch in den Händen hält.« … Madonna Giacomina zog sich in aller Eile an und folgte dann stillschweigend ihrem Gemahl zum Bette ihrer Tochter, wo sie dann allerdings, als dieser die Vorhänge auseinanderschlug, deutlich sah, wie Caterina die Nachtigall, die sie so gern singen hörte, gefangen hatte und noch festhielt. Hocherzürnt, daß Ricciardo sie so hintergangen hatte, wollte Madonna Giacomina schon Lärm schlagen und den jungen Mann schelten. Messer Lizio aber hielt sie zurück und sagte: »Frau, so wert dir meine Liebe ist, so hüte dich, den Mund aufzutun, denn wahrlich, da sie ihn nun einmal eingefangen hat, so soll sie ihn auch haben. … Und will er im Guten aus meinem Hause entlassen werden, so muß er sich zuvor mit ihr versprechen, damit er dann die Nachtigall in seinen eigenen Bauer gesteckt hat und nicht in einen fremden.«

Als die beiden Liebenden solchermaßen überrascht erwachen, willigt Ricciardo sofort in die Ehe ein.

Nachdem darauf Ricciardo sich mit Messer Lizio noch ausführlicher besprochen hatte, vermählte er sich wenige Tage später nach hergebrachter Sitte und in Gegenwart der Freunde und Verwandten abermals mit Caterina, führte sie mit vielen Festlichkeiten in seine Heimat, wo er eine prächtige, ehrenvolle Hochzeit ausgerichtet hatte, und ging dann in Ruhe und Freuden, bei Tag und bei Nacht, soviel es ihm nur beliebte, noch lange mit ihr auf den Nachtigallenfang.

So, nun wissen Sie alles über die Nachtigall. Nun müssen Sie das alles auch wieder vergessen, sonst stirbt die Verwandlung.

Ich hatte Ihnen von der Cypraea erzählt, der Kaurimuschel, und von ihrem Glanz. Sie ist ganz und gar von Perlmutter umgeben, weil der zweilippige Mantel dieser Meeresschnecke das ganze Gehäuse umhüllt. In einer Weiterentwicklung wurde das nutzlos gewordene Gehäuse zurückgebildet. Die riesigen Mantellappen dieser nackten Meeresschnecke befähigen sie, im Wasser zu fliegen. Ich spreche von der Aplysia, der Ungewaschenen. – Was mag sich Linné wohl bei dieser Benennung gedacht haben? Immer im Bade und ungewaschen? – Aplysia heißt sie oder Seehase. Mit meinen eigen Augen und mit denen meiner Freundin habe ich diese Schnecke im Mittelmeer fliegen gesehen.

Erlauben Sie mir, meinen Vortrag über Archilochos und das Verlangen, die Nachtigall anzulangen, mit zwei eigenen Gedichten zu beenden.

APLYSIA NATANS

Beflügelt
mit den Lippen
der eigenen Scham
ein Engel
der fliegende Phallus
nackt im Wasser
eine Schnecke, fliegt
mit den Schamlappen
mit Engelszungen
ein Deltaflügel mit Sack und Flöte
das Doppelgeschlecht.

Bestenfalls kann die Poesie das verletzte Tabu wieder heilen. Hymnisch lebt sie von Entschleierung und Verhüllung. Lassen Sie mich zum Schluß von der Rose schweigen und von der Nachtigall, in einem Gedicht.

ROSE & NACHTIGALL

Eine Rose
ist eine Rose.

Hörst du
die Nachtigall?

Deine Rose
ist meine.

Meine ist deine
Nachtigall.

(Gegen Ende ist ein Tumult entstanden. Hartmut Böhme steht auf und erinnert laut an den alten Topos der Grillenfängerei, über die sein Freund Horst Bredekamp gerade einen Aufsatz veröffentlicht habe. Astel ruft zurück, daß griechisch gryllos das Schwein bedeute, das Grunzende. [Plutarch hat bekanntlich in seinen Moralia einen platonischen Dialog erfunden, in dem sich ein Gefährte des Odysseus namens Gryllos, der in ein Schwein verwandelt worden war, weigert, sich wieder in den unmoralischen Stand eines Menschen zurückverwandeln zu lassen. Gryllos heißt griechisch das Schwein, es korrespondiert etymologisch mit Grille.] Er gibt noch folgenden Merkvers zum besten:)

Die Grille grunzt,
es zirpt das Schwein.
Die Nachtigall
bleibt nicht allein.