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Titel Arnfrid Astel, Literatur im Kollektiv

Duderstadt liegt im Eichsfeld. »Das Eichsfeld wählt CDU!« Dem Vernehmen nach zu 70%; jedenfalls diesseits der Zonengrenze. Sie ist die zweite Attraktion, eine Art Touristikum. Wegweiser zeigen zum Aussichtspunkt »Rote Warte«, die nur zufällig rot ist und nur zufällig den Blick in das vorsätzlich rote Eichsfeld freigibt, wo Rehe hinter einer verminten Koppel friedlich grasen, als verstünden sie nichts von Alleinvertretungsanmaßung. Die erste Attraktion ist Duderstadt selbst, einige zwanzig Kilometer östlich Göttingen entlegen, seit 927 urkundlich erwähnt, Kleinstadtrechte seit dem 13. Jahrhundert: das Herzstück des Untereichsfeldes. In Duderstadt triumphiert das Fachwerk. Ein restaurativer Bürgerstolz hat Holzwurm und Verfall das Handwerk gelegt und die alte Farbenfrische wieder draufgezwungen. »Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut«, vom 16. bis ins 20. Jahrhundert, wirklich, hier lernt man die Stile des Fachwerks zu schätzen und zu unterscheiden, noch das 19. Jahrhundert hat wackeres Fach geschaffen unter wackerem Spruch, und man kann dort Fachwerkneubauten sehen, die sind noch gar nicht verputzt. Sprüche halten das Große und Ganze zusammen. Man fühlt sich immer heiter und aufgeräumt und merkt, daß es doch ein sonderlich Ding ist um die Ordnung…

Kein Wunder also, wenn sich hier der Volkswitz mehr am Versicherungsbetrug denn an der Politik entzündet. »Hoch versichern, tief anzünden!« lautet der einschlägige und nur mündlich tradierte Merkvers. Die jungen Fußballer sind sportlich auf Draht, frönen aber beim Bier einem pseudoakademischen Kommers. Das ist ihre Art des Protestes gegen Überalterung und randalierende Studenten. Es gibt randalierende Schüler in Duderstadt. Die sozialistische Arbeiterjugend zählt elf Mitglieder, ebenso viele wie die Jugendorganisation der NPD. Welche Jugend das Kriegerdenkmal des Gymnasiums vorsätzlich mit roter Farbe übergossen hat, muß man erraten, denn die angestellten Ermittlungen sind ohne Ergebnis geblieben. Dort prangt noch heute, nach zwei Weltkriegen, der lateinisch gemeißelte Satz des Horaz, es sei »süß und ehrenhaft, fürs Vaterland zu sterben«. Den Zusatz der Junghumanisten, »Nicht töten, denken!« hat der Direktor der Anstalt, wie man hört und liest, wieder abschrubben lassen.

Doch nun zur Literatur, zu uns selber. Goethe hat schon einmal in Duderstadt übernachtet, in der »Tanne«. Er hatte sogar eine Gelegenheit mit dem Zimmermädchen, aber sein »Knecht wollte sich nicht erheben« (nach Urtext aus dem Gedicht »Das Tagebuch«, das aber in den meisten Goetheausgaben weggelassen ist). War es Streik, oder war er des Aufstehens müde? Wir zehn haben zehnmal in Duderstadt übernachtet, im »Deutschen Haus«, das sind hundert Nächte, grob gerechnet, und haben fleißig die Hebel unserer Schreibmaschinen erigiert. Wir, das sind Robert Stauffer aus Wien, Rolf Roggenbuck aus Hamburg, W. E. Richartz und Helga Novak aus Frankfurt, Eckart Kleßmann, Solke Kirchschlag, Uwe Herms und Hans Jürgen Fröhlich aus Hamburg, Jürgen Billich aus Heidelberg und Arnfrid Astel aus Saarbrücken. Jeder war mit ein bis zwei Seiten Text angereist, die reihum jeder andere mindestens einmal fortsetzen sollte, so daß schließlich aus zehn verschiedenen Text-Ansätzen zehn jeweils zehnteilige Texte entstehen. Ist das klar?

Alles war streng geheim und anonym. Jeder wußte jedoch Bescheid; dennoch spielten wir Weihnachten bis zur Bescherung, bis zur Marathonlesung am letzten Tag: Jeder Ansetzer durfte und mußte zugleich verlesen, was er uns und was die anderen ihm und seinem Textansatz bescheret hatte(n).

Es wurden angesetzt zwei Dialogische Texte (»Alle mal Hörsehn!«) von W. E. Richartz und Hans Jürgen Fröhlich; etwas Theorie eines progressiven Theaters von Jürgen Billich, etwas über Samtjacken und die Apo-rie der Maulwürfe von Helga Novak; eine Verpallhornung des Hamburger Erlösers Eiffe und seiner Widersacher von Rolf Roggenbuck (»Palle will Präsident werden. Geht das?«), ein lyrisches Parlando demonstrierender Hungerpastoren von Uwe Herms, eine Heilswerbung von Solke Kirchschlag, deren Artikel sehr begeht war, alles und mehr über Boxer von Robert Stauffer, eine Altduderstädter Sex-Kanonade von Eckart Kleßmann und ein über Stanzerln reitendes Komma von Arnfrid Astel.

Nicht angereist war Gerhard Fritsch aus Wien, einer der Initiatoren dieses literarischen Teamworks. Er hatte wegen Arbeitsüberlastung kurz zuvor abgesagt, und während der Tagung lasen wir dann die Nachricht von seinem Selbstmord. Fritsch und Fröhlich verbanden Jugenderinnerungen mit Duderstadt. Sie waren deshalb auf die literarische Nabelung dieses Ortes verfallen, der ja auch geographisch zentraler liegt als Karlstein oder Wildalpen, die vorangegangenen Tagungsorte dieser Gruppe. Fritschs Selbstmord führte zu einer ersten Meinungsverschiedenheit im Kollektiv. Ein Teamworker wollte nicht einfach so weiterschreiben, als seien wir vollzählig. Er schrieb daher eine Fortsetzung über Gerhard Fritsch und seine Verdrängung im Team. Die Mehrheit nannte jedoch mit Thomas Mann gerade die Erledigung der Realität durch Literatur Verdrängung (Herms: »literaristisch«).

Diese Meinungsverschiedenheit implizierte eine zweite, eine wichtigere: Darf sich das Kollektiv wegen seines Bekenntnisses zur Idee des Kollektivs schon im Gegensatz zur Gesellschaft sehen, als eine kritische und progressive Einheit? Oder ist dieses Kollektiv nur ein Abbild dieser Gesellschaft, ein durchaus nicht utopisches Modell mit seinen eigenen repressiven Tendenzen, seinen erotischen Störungen, Rivalitäten des Erfolges, Führungsansprüchen und randalierenden Minderheiten? Muß ein Querkopf schon zur Räson gebracht werden, gefährdet ein Abweichler bereits das System? Ganz so schlimm war es nicht. Es war sehr viel besser. Es war schon fast gut so. Fröhlichs skeptische Prognose, »wenn das reibungslos abläuft, kann nicht viel dabei herauskommen«, diese Prognose wurde bestätigt: es ist nicht reibungslos abgelaufen, und deshalb ist etwas dabei herausgekommen: Einige sendbare und einige interpretiert sendbare Stränge. (Eine westdeutsche Rundfunkanstalt hatte also nicht ganz vergeblich investiert.) Der eine oder andere druckbare Strang. (Darunter Hörtexte und eine Theatertheorie.) Der Rest ist redigierbar, wenn er nicht sterben darf.

Der gewagt gute Vorsatz zur Solidarität mit den Kollegen, zum Abbau störender Individualität, eines veralteten Ich-Begriffs zugunsten kollektiver Arbeit hat sich also ebenso gelohnt wie der durchgehaltene Konflikt, die eingestandene Unvereinbarkeit von Individualitäten, die gut daran getan haben, Texte, die ihnen nicht liegen und deren Ziel sie nicht teilen, auf die belebende Gefahr der Zerstörung hin umzufunktionieren, zu stören, zu irritieren. Die Ergebnisse zeigen, daß sich sowohl die konstruktive als auch die destruktive Methode bewährt hat.

Der Lohn des Kollektivs ist Selbstbefreiung im doppelten Sinne, subjektiv und objektiv. Man wird frei und beweglich, man reagiert wieder und schreibt sich frei, wird soziabel und macht die alte Entdeckung neu, daß das Bewußtsein ein Strom ist, der einem sowieso ins Haus kommt, und daß man ihn nur zum Haushaltstarif einzuschalten braucht, um permanent Literatur zu produzieren. Das kommt billiger und gibt mehr her. Und die andere Wiederentdeckung: »Ich« ist unser aller zweiter Vorname. Wir haben alle den gleichen Patenonkel: Selbstbewußtsein. Man kann es ruhig einmal wegschmeißen, denn auf Schritt und Tritt findet man ein neues. Vorausgesetzt, man begibt sich ins Kollektiv. Überall ist Duderstadt. Man muß nur die Grenzen ein wenig retuschieren.