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Umschlagbild Peter C. Bol (Hrsg.), Zum Verhältnis von Raum und Zeit in der griechischen Kunst, Möhnesee 2003, Schriften des Liebighauses Nr. 96

GOTT DER GELEGENHEIT

Wo ist der Künstler zu Haus? – »In Sikyon wohnt er.« – Sein Name? –
»Ist Lysippos.« – Du bist? – »Gott des allmächtgen Moments.« –
Sag, warum gehst du auf Zehen? – »Ich laufe beständig.« – Weswegen
hast du Flügel am Fuß? – »Weil ich so flink bin wie Wind.« –
Und du hältst in der Rechten ein Messer? – »Es kündet den Menschen:
nichts in der Weite der Welt schneidet so scharf wie ich selbst.« –
Und das Haar an der Stirn? – »Beim Zeus, der Begegnende soll mich
schnellstens erhaschen.« – Warum bist du denn hinten so kahl? –
»Bin ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorübergeglitten,
hält mich, so sehr man es wünscht, keiner von hinten mehr fest.« –
Und warum schuf dich der Künstler? – »Für euch! Und zu eurer Belehrung
stellte er, Wandrer, mich auch hier in der Vorhalle auf.«

Poseidippos, Anthologia graeca XVI, 275


DIE GELEGENHEIT BEIM SCHOPFE…

Manchmal treff ich den Gott.
Im Liebieghaus liest er die Zeitung.
Hinten ist er schon kahl,
vorne verlockt mich sein Schopf.
Mit des Messers Schneide
streicht er die Butter aufs Brötchen,
sieht sich gelegentlich um,
doch er bemerkt mich nicht.
Zwischen Zeigefinger und Daumen
hält er die Tasse,
wiegt sie im Gleichgewicht,
schlürft den heißen Café.
Unter der schäbigen Jacke
verbirgt er sorgsam die Flügel.
Socken fesseln den Fuß,
Riemen verschnüren den Schuh.
Zum Verhältnis von Raum und Zeit
in den griechischen Künsten
fand ich im Keller ein Buch.
Autor ist Peter C. Bol.
Augenblicklich sah ich
Kairós auf dem äußeren Umschlag.
Frau Emilia Bluhm
hat ihn mir fotokopiert.
  

zum Seitenbeginn Quelle: 1/05 - ungedruckt