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EIN RASSIST aus Deutschland frühstückt im Kellergewölbe des Hotel de Lille in Paris. Er steigt die enge Wendeltreppe hinab und fühlt sich fast schon in den Katakomben aufgehoben. Da ist er wieder, dieser Kalksandstein, aus dem Paris gebaut wurde. Und in den so entstandenen Höhlen unter der Stadt liegen, auf Befehl Napoleons, die Knochen der Bewohner aus den Beinhäusern der alten Friedhöfe. Ein lichtes Gewölbe unter dem schmalen Hotel. Und dort, er frühstückt erst gegen zehn, sitzen nur noch drei »farbige« Frauen, plaudernd, adrett angezogen, mit weißer Schürze. Eine mit Brille löst am anderen Ende des Kellergewölbes ein Kreuzworträtsel. Der Rassist denkt an Kafkas »Bericht für eine Akademie«, an Grandvilles »Staats- und Familienleben der Tiere«, an Coetzees »Leben der Tiere«, diese anrührende Geschichte einer Frau, die kein Fleisch ißt. Der Rassist erschrickt über seine Gedanken. Deshalb schreibt er sie auf. Ein in jeder Hinsicht angenehmes Frühstück. Er ist der einzige Gast. Auf dem Milchkaffee schwebt deutlich ein Epsilon. Niemand ist da, dem er es zeigen könnte. Niemand? Er wagt nicht, es den freundlichen Frauen zu zeigen. Inzwischen ist es fast schon elf Uhr.
  

zum Seitenbeginn Quelle: 11/03 - ungedruckt - Saline Royale / X